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5 Ferdinand Hodlers künstlerische Neugier ist untrenn- bar mit der Landschaft verbunden. Sein Naturbild hat die helvetische Kunstgeschichte des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts gleicher­ massen geprägt wie die Sicht auf die Schweiz im Allgemeinen. Hodlers Darstellung des Thunersees mit dem Niesen am gegenüberliegenden Ufer, die im Dezember aufgerufen wird (Abb. 3), zieht den Betrachter durch zwei Wesensmerkmale an: Zuerst fällt die strenge Komposition des Gemäldes ins Auge. Die kegelförmige Spitze des Thuner Hausbergs Niesen liegt beinahe in der Bildmitte und das wuchtige Bergmassiv breitet sich bis zu den Rändern nahezu symmetrisch aus. Der zwischen Berg und Betrachter liegende See wird durch Hodlers Dar- stellung beinahe immateriell. Dem Künstler gelingt es, die bewegungslose Wasseroberfläche als eine Art magisches Feld zu etablieren. Fast meint man, die Luft anhalten zu müssen, um diese Stille nicht zu stören. Die zeitgenössische Kritik sprach von «blauem, durchsichtigem Licht», in dem Hodler den Niesen gezeigt habe. Der Künstler strebte danach, seine Bilder «von allen unbedeutenden Details zu befreien». Die strenge, pyramidale Form dieses Berggipfels betont Hodlers Bildanlage, die er als Vorschau auf die Auktion Schweizer Kunst vom 4. Dezember 2020 Obsession für die Landschaft ‹Parallelismus› bezeichnete und die ihm die Tür zur Abstraktion öffnete. Entstanden ist das Bild vermutlich imWinter 1912–13. In jener Zeit begann der Niesen im Berner Oberland erst, sein touristisches Potenzial zu entfalten. Zwar gab es schon 1856 ein erstes Gasthaus auf dem 2362 Meter hohen Gipfel, doch musste man den Berg müh- sam zu Fuss erklimmen, wenn man die phänomenale Aussicht geniessen wollte, doch die Kosten für Träger oder Reittiere scheute. Erst mit der Fertigstellung der Niesen-Standseilbahn im Jahr 1910 erreichte jeder- mann von Mülenen aus in knapp einer Stunde mühe- los den Niesen-Kulm. Ferdinand Hodler zeigt uns den Niesen vom nördlichen Thunerseeufer aus; vermut- lich blickte der Künstler von der Seestrasse zwischen Oberhofen und Gunten gen Süden. Das vorliegende Ölbild ist eines von rund vierzig Niesen-Motiven, die in Hodlers Werk zu finden sind – etliche davon befinden sich heute in musealen Sammlungen. Neben der grandiosen Darstellung des Niesen und einer felsigen Landschaft mit Baum und Bach (Siehe Abb. S. 7) kommt ein Selbstporträt Hod- lers zum Aufruf (Abb. 4), das zwei Jahre vor dem Tod des Künstlers als Teil einer Serie entstand. Zwei weitere Werke stammen aus einer bedeuten- den Schweizer Privatsammlung: der monumentale Frauenkopf (Abb. 1), der eng mit dem fürs Zürcher Kunsthaus konzipierte Wandbild ‹Blick ins Unendliche› verbunden ist, und ‹Der Mäher› (Abb. 2), ein zentrales Motiv aus Hodlers Schaffen, das auch die 1907 her- ausgegebene 100-Franken-Note schmückte. 3 4

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