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Schweizer Kunst
Waldhaus Flims, Casino (historische Aufnahme).
Segantinis hatte Giacometti ein Gemälde
seines verehrten Lehrmeisters fertigge-
stellt und sich dabei die divisionistische
Maltechnik angeeignet.
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Im Unterschied
hingegen zu den Gemälden Giovanni Se-
gantinis, dessen Palette trotz der «mélan-
ge optique» des Divisionismus eher schwer
und verhalten wirken, bilden das leuchten-
de Kolorit inGiacomettis Flimser Panorama
am Beginn des neuen Jahrhunderts den
Auftakt zum reifen Oeuvre Giovanni Gia-
comettis, das vom Thema des Lichts im
Äquivalent der Farbe beherrscht wird.
Auch in den Seitenfeldern leuchten die
Farben dem Betrachter entgegen, doch
sind hier Luft- und Farbperspektive, die
im mittleren Teil für Tiefenillusion sorgen,
stark zurückgebunden. Im linken Bild sind
im Unterschied zu heute, da um 1900 die
Bewaldung weniger dicht als heute war,
von links nach rechts deutlich das Châlet
Bellavista, das Bellavista und das Waldhaus
zu erkennen (vgl. Abb. heute), Die Farben
von Himmel und Landschaft kehren vielfäl-
tig prismatisch gebrochen im Spiegel des
Sees wider. Sind die Pigmente im unteren
Teil divisionistisch aufgelöst, schliessen
sie sich oben zu homogeneren Flächen
zusammen und belegen, dass Giacometti
hier die zeitgenössischen Tendenzen des
Jugendstils aufnahm. Dies gilt noch mehr
für das rechte Gemälde, dessen hoch-
rechteckiges Bildgeviert durch bildparallele
Zonen unterteilt ist, die dem gewohnten
perspektivischen Sehen entgegenwirken.
Angelpunkt zwischen Caumasee und Wald
bildet das 1906 abgebrochene Badehäus-
chen. Asymmetrische Spannung bringen
der fast abstrakt-kubische Block des «Flim-
sersteins», zu dem die freie Form der Wol-
ken kontrastiert.
Der damalige Direktor des Kurhaus Wald-
haus, J. F. Walther-Denz, hatte Giovanni
Giacometti schon vier Jahre vorher, als er
noch Direktor des Hotel Palace in Maloja
war, einen ähnlichen Auftrag erteilt: Das
1899 datierte Gemälde Blick auf Maloja mit
Hotel Palace
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gibt wie das Mittelbild des
Flimser Panoramas von erhöhtem Stand-
ort den Blick auf das Hotel vor imposan-
ter Bergkulisse wieder (evtl. Abb. SIK-ISEA
Nr. 48535, Hotel Schweizerhaus, Maloja).
Doch die im Todesjahr von Giovanni Se-
gantini gemalte Ansicht von Maloja ist in
ihrer kleinteiligen Malweise noch ganz dem
berühmten Vorbild verpflichtet und zeigt
sich in ihrer beinahe photographischen
Präzision künstlerisch weniger gewagt als
das Flimser Panorama.
J. F. Walther-Denz war auch die treibende
Kraft hinter dem geplanten Engadiner Pa-
norama von Giovanni Segantini, das unter
Mitwirkung von Giovanni Giacometti und
weiteren Malern für die Pariser Weltaus-
stellung von 1900 vorgesehen war. Segan-
tini, der das Projekt eines Rundpanoramas
1897 in Samaden der Öffentlichkeit vor-
stellte, musste das Vorhaben schliesslich
aus Kostengründen aufgeben und redu-
zierte das Panorama auf ein Triptychon,
dessen Teile Werden, Sein und Vergehen
heute im Segantini-Museum ausgestellt
sind. Von Segantinis Panoramaidee be-
flügelt, hatte Giovanni Giacometti schon
1898 das vierteilige Oberengadiner Pan-
orama von Muottas Muragl
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gemalt, vom
gleichem Standort aus, wo Segantinis
Gemälde Sein entstand. Die Form des Tri-
ptychons beim Flimser Panorama ist zwei-
fellos von Segantinis Werden, Sein und
Vergehen angeregt. Doch lässt Giacometti
die symbolistisch-überhöhenden Bezüge
weg und feiert ganz diesseitig die Schön-
heit der Natur. Dennoch mag sich der Be-
trachter ein wenig an Flügelaltäre mit der
unterschiedlichen Behandlung von Mittel-
teil und Flügeln erinnert fühlen: So wie die
Seitenteile von spätmittelalterlichen Re-
tabeln oft künstlerisch fortschrittlicher als
der zentrale Teil erscheinen, so wirken die
Seitenteile des Flimser Panoramas noch
avantgardistischer als der Mittelteil.
Paul Müller, Co-Autor Werkkatalog der
Gemälde Giovanni Giacomettis
1 Paul Müller, Viola Radlach, Giovanni
Giacometti. Werkkatalog der Gemälde,
Zürich: Schweizerisches Institut für
Kunstwissenschaft, 1997, Band II-I, Nr.
1904.13.
2 Cuno Amiet – Giovanni Giacomet-
ti. Briefwechsel, Hrsg. Viola Radlach,
Schweizerisches Institut für Kunstwis-
senschaft, Zürich, Zürich: Verlag Schei-
degger & Spiess, 2000, Nr. 311, S. 361.
3 G. Giacometti aus Trins an A. Giacometti
in Borgonovo, 29.9.1903, Postkarte
(SIK-ISEA, Schweizerisches Kunstarchiv,
274.A.1.1.56); G. Giacometti aus Trins an
A. Giacometti in Borgonovo, 1.10.1903,
Postkarte (SIK-ISEA, Schweizerisches
Kunstarchiv, 274.A.1.1.57).
4 Wie Anm. 1, Nr. 1899.09.
5 Wie Anm. 1, Nr. 1899.10.
6 Wie Anm. 1, Nr. 1898.10.