

| 136
PostWar & Contemporary
3486 AI WEIWEI(Peking 1957 - lebt und arbeitet u.a. in
Peking)
Ohne Titel (Foster Divina). 2010.
Huanghuali Holz.
Durchmesser 130 cm.
Mit der Bestätigung des Künstlers, Peking
Mai 2012.
Provenienz:
- Galerie Urs Meile, Peking/Luzern.
- Dort 2012 vom heutigen Besitzer erwor-
ben, seitdem Privatsammlung Schweiz.
Literatur:
- Meile, Urs: Ai Weiwei. Works from 2004 -
2007, Zürich 2008, S. 36-39 (mit Abb.).
- Brougher, Kerry/ Kataoka, Mami, u.a.: Ai
Weiwei: according to what?, 2012, S. 14ff.
Ai Weiwei gehört zu den bedeutendsten
Konzeptkünstlern der Zeitgenössischen
Kunst; und gleichzeitig durch sein politi-
sches Engagement zu einem der Einfluss-
reichsten, teils aber auch Umstrittensten.
Wie kaum ein anderer Künstler verbindet
er die Kunst der Gegenwart mit den Tradi-
tionen seines Landes und der Geschichte.
Eindrücklich stellt er dies im vorliegenden
Werk unter Beweis.
De divina proportione ist ein 1509 erschie-
nenes Buch von Luca Pacioli mit Illustrati-
onen von Leonardo Da Vinci. Hierin finden
sich Darstellungen eines geometrischen
Polyeders, welches der Form dieser Skulp-
tur von Ai Weiwei entspricht. Pacioli greift
bei seiner Abhandlung von „göttlichen
Proportionen“ auf bereits in der Antike
besprochene, ideale Formen zurück. Von
den fünf platonischen Körpern ist der Iko-
saeder derjenige, der zwanzig gleichsei-
tige Dreiecke aufweist. Stumpft man von
diesem die 12 Ecken zu Flächen ab, erhält
man den Ikosaederstumpf, einen archi-
medischen Körper, die Form, die Ai Weiwei
für seine Skulptur „Foster Divina“ wählt. Es
handelt sich um eine Kugel, zusammenge-
setzt aus pentagonalen und hexagonalen
Aussenflächen, wobei alle Kanten gleiche
Längen aufweisen. Sie bilden ein exaktes,
den Raum begrenzendes Gerüst.
Reguläre Polyeder weisen eine grösst-
mögliche Symmetrie auf, welche bereits
bei den platonischen Körpern wesentlich
ist. Wichtig war dies in der Antike und
dann auch in der Renaissance, weil man
durch solche geometrische Formen unter
anderem den Aufbau der Materie zu er-
klären versuchte. Ein Ansatz, der gar nicht
so verkehrt ist, denn auch mit Kenntnis
der molekularen Strukturen entdecken
wir heute erstaunlich viele geometrische
Grundformen. So weist zum Beispiel das
Fullerenmolekül (C60) exakt die Form des
Ikosaederstumpfes auf.
Die vorliegende Skulptur weist mit ihrem
präzisen Raumsinn viel Ähnlichkeiten zu
Ai Weiweis architektonischen Projekten
auf. Die extreme Präzision erzeugt ein
gleichzeitiges Gefühl von Schwere und
Leichtigkeit. Nach eigenen Aussagen hat
Ai Weiwei die Form zuerst an einem Spiel-
zeug entdeckt, mit welchem seine Katzen
spielten. Dieses Design hat ihn fasziniert.
Typischerweise verbindet er dadurch
etwas Alltägliches mit etwas sehr Bedeu-
tendem und Traditionellem. Vielleicht ist
es auch kein Zufall, dass auch der Fussball
die Form des Ikosaederstumpfes hat.
Ai Weiwei war 2008 an dem Stadionbau
„Vogelnest“ von Herzog und DeMeron in
Peking beteiligt, und es könnte sein, dass
ihm die Assoziation zu diesemweltweit
bekannten Sport gut in sein Konzept des
spielerischen Umgangs mit Traditionen
passt.
Ai Weiwei schafft eine kleine Serie solcher
Sphären verschiedener Grössen an: mal,
wie die hier vorliegende Skulptur, nur das
Gerüst, mal auch die Kugel mit geschlos-
senen Flächen. Er fertig sie aus Huanghuali
Holz, einemMaterial, welches für klassi-
sche chinesische Möbel benutzt wurde.
Auch verwendet er eine traditionelle
Technik der nagellosen Stückverbindung
aus der Ming und Qing Dynastie. Dieser
Bezug auf die Traditionen ist in Ai Weiweis
Werk sehr wichtig.
CHF 180 000 / 260 000
(€ 166 670 / 240 740)
Darstellung eines Ikosaederstumpfes in:
Luca Pacioli, Divina proportione. Opera a
tutti glingegni perspicaci e curiosi neces-
saria oue ciascun studioso di philosophia
prospettiua pictura, Florenz 1509.