Impressionismus & Klassische Moderne
| 24
3219* GABRIELE MÜNTER(Berlin 1877 - 1962 Murnau)
Vereiste Strasse. 1911.
Öl auf Malkarton.
Verso mit Nachlassstempel.
34,9 x 40,5 cm.
Dieses Werk wird in das von der Gabriele
Münter- und Johannes Eichner-Stiftung
herausgegebene Werkverzeichnis der
Gemälde von Gabriele Münter aufgenom-
men.
Provenienz:
- Galerie Gunzenhauser, München.
- Privatbesitz Deutschland (in den 70er
Jahren bei obiger Galerie erworben).
Nach dem frühen Tod der Eltern, erstem
privatemZeichenunterricht in Düsseldorf
und einem zweijährigen Aufenthalt in
Amerika zieht Gabriele Münter 1901 nach
München. Da es Frauen zu dieser Zeit
verboten ist, an einer öffentlichen Kunst-
akademie zu studieren, tritt die emanzi-
pierte junge Frau zuerst in die Schule des
Künstlerinnen-Vereins ein und später in
die Privatkunsthochschule Phalanx, wo
Kandinsky zuerst ihr Lehrer und kurze Zeit
später schliesslich ihr Geliebter wird. Mün-
ter und Kandinsky reisen an viele verschie-
dene Orte und ihr malerischer Stil wird
durch die dabei entstehenden Kontakte zu
den Fauves stark geprägt. In ihremTage-
buch schreibt Münter: „Ich habe da nach
kurzer Zeit der Qual einen großen Sprung
gemacht – vomNaturabmalen – mehr
oder weniger impressionistisch – zum
Fühlen des Inhaltes, zumAbstrahieren –
zumGeben des Extraktes.“ (A. Hoberg
(Hrsg.), Wassily Kandinsky und Gabriele
Münter in Murnau und Kochel, 1902-1914.
Briefe und Erinnerungen, München 1994,
S. 45f.)
Die Landschaft spielt in Münters Werk eine
zentrale Rolle, gehört zu den beliebtesten
Themen der Künstlerin und ist auch ihr
persönliches Lieblingssujet. Sie variiert
verschiedenste Landschaften, experimen-
tiert mit Farben, Licht und Wetterlagen
und schafft so eine Palette unterschiedli-
cher Werke.
Münter konzentriert sich bei ihrer Malerei
auf scharfe Formen und Konturen, wobei
sie das Detail ignoriert und die Landschaft
auf ihre Einfachheit hin reduziert. Die Ge-
mälde bestehen aus farbigen Flächen, die
harmonisch zusammenspielen. Sie geben
zwar gegenständliche, jedoch abstrahierte
Landschaften wieder. Die flachen Kom-
positionen, die Abwesenheit von Schat-
ten sowie die Umrandung der einzelnen
Flächen sind Stilmittel Münters, für welche
das vorliegende Gemälde beispiellos ist.
Der zentrale, karge Baum ist ein Motiv,
von welchemMünter in mehreren Werken
Gebrauch macht. In „Vereiste Strasse“
setzt sie den Stamm in das Zentrum des
Bildes. Die blätterlosen Äste ragen breit
in den roten Himmel. Der Schnee liegt
auf der Wiese und wird unterbrochen von
einzelnen grünen Grasflecken, die noch
nicht oder nicht mehr von Schnee bedeckt
sind. Der Titel des Gemäldes wird durch
das eisige Blau der Strasse deutlich.
Unser Gemälde „Vereiste Straße“ von
1911 entsteht im Rahmen einer Reihe von
Winterbildern (Gemälde und Zeichnun-
gen) imWinter 1910/1911, die durch ihre
Kargheit der Bildmittel und Dominanz der
Linie einen Stilwechsel markieren, der sich
von den durch konturierte Farbflächen
zusammengesetzten Bildern von 1910
deutlich unterscheidet. Die konturierende
Linie scheint sich zu verselbständigen und
die Führung im Bild zu übernehmen. Auch
hier imGemälde bildet die dunkle Umriss-
linie die Kontur der Farbfelder, jedoch löst
sich die Linie von dieser Aufgabe und ge-
winnt eine zeichnerische Autonomie. „Wer
aufmerksammeine Gemälde betrachtet,
der findet in ihnen den Zeichner“ schreibt
Gabriele Münter 1952 rückblickend.
Bemerkenswert in dieser Komposition
ist wie es Münter gelingt, die Körperhaf-
tigkeit der Farbflächen zurück treten zu
lassen und die Linie in ihrer zeichnerischen
Funktion in den Vordergrund zu rücken.
Dabei etablieren sich einzelne Bildmotive
als feste Bestandteile ihrer Bilder.
Zusammen mit anderen wichtigen Malern
des Expressionismus wie Franz Marc und
natürlich Kandinsky gehört sie zu den
Gründungsmitgliedern des in München
entstandenen Blauen Reiters.
Auch wenn Münter zum Kern der Blauen
Reiter gehört, greift sie nie die völlige
Entwicklung zur Abstraktion auf, son-
dern bleibt bei der zwar abstrahierten,
jedoch figurativen Malerei. ImDezember
1911 eröffnet deren erste Ausstellung
„Die erste Ausstellung der Redaktion der
Blauen Reiter“, welche rund 43 Werke von
14 Künstlern zeigt, davon fünf von Münter.
Das zur Auktion angebotene Gemälde
entsteht im selben Jahr. Ein zweites, etwas
grösseres Exemplar unseres Werks war
Teil dieser einzigartigen Ausstellung und
unterstreicht somit die Wichtigkeit unse-
rer „Vereisten Strasse“.
CHF 200 000 / 300 000
(€ 185 190 / 277 780)