

Christus als Majestas. Feder in Rot und Braun,
gelb laviert. Mit der Feder innerhalb der Darstel-
lung bezeichnet: Ego sum alpha et o primus et
novissimus principium finis. Ego sum via veritas
et vita. 34,8 x 24 cm. Mit den Spuren der alten
Heftung am rechten Blattrand.
In der Märzauktion 2012 wurde von Koller
Auktionen das Einzelblatt mit der Darstellung
des schreibenden Evangelisten Matthäus,
Nordfrankreich, um 1120 angeboten und erfolg-
reich vermittelt (Abb. 1). Die hier vorliegende
Buchseite stammt wohl aus derselben Hand-
schrift. Neben Übereinstimmungen sind aber
auch Unterschiede in der Behandlung der Figur
Christi und im Layout festzustellen.
Wie üblich thront Christus in der Maiestas
streng frontal, in seiner vollen Hoheit und
Erhabenheit. Bereits früh und oft eröffnet die
Maiestas Christi das letzte Buch der Bibel, die
Apokalypse (Offenbarung), so auch im Codex
Amiatinus aus der Zeit um 700 n. Chr. in der
Biblioteca Medicea Laurenziana in Florenz.
Unser Blatt aber scheint das Bild als Titelbild
eines Evangeliars zu zeigen, da auf der Rückseite
Teile eines Kalendars zu lesen sind. Leider sind
die Eintragungen von zu allgemeiner Natur, um
als Handhabe für eine Lokalisierung zu dienen.
Die Frontalansicht wird zusätzlich dadurch poin-
tiert, dass die Figur vor dem leeren Hintergrund
zu schweben scheint und dadurch jeglicher
bildliche Zusammenhang zu einer Umgebung
fehlt. Es ist klar eine Sitzfigur, wobei jegliche
Andeutung eines Thrones, eines Sitzkissens
oder eines Erdenrunds als Fussschemel, einer
Mandorla fehlt. Christus thront mit erhobener
Rechten, die Finger zum Segensgestus geformt.
In der Linken stützt er das geöffnete Buch auf
dem linken Oberschenkel.
Wie im Matthäusbild lässt sich der Text der
Doppelseite entziffern. War es dort der Anfang
des Evangeliums mit dem Stammbaum Christi,
lesen wir hier mit vielen abenteuerlichen
Abkürzungen: Auf der linken Versoseite „Ego
sum Alpha et O [Omega] primus et novissimus
principium finis“ nach Offenbarung 22, 13, und
auf der rechten, der Rectoseite: „Ego sum via
[et] veritas et vita [nemo venit ad Patrem nisi per
me]“ nach Johannes 14, 6. – „Ich bin das Alpha
und das Omega, der Erste und der Letzte, der
Anfang und das Ende“ und „Ich bin der Weg
und die Wahrheit und das Leben; niemand
kommt zum Vater, es sei denn durch mich“.Die
Texte umspannen die ganze Heilsgeschichte und
stammen aus zwei verschiedenen Büchern des
Neuen Testaments, des Johannes Evangeliums
und der Apokalypse. Man könnte argumen-
tieren, es sind die beiden wichtigsten Bücher.
Denn beide galten bis in die frühe Neuzeit
als von Johannes, dem Lieblingsjünger Jesu
geschrieben.
Die Zeichnung ist in brauner und roter Tinte
ausgeführt; das Blatt weist im Unterschied zum
Matthäusbild keine Linierung auf, was zusätzlich
für die besondere Bedeutung der Maiestas als
Titelbild eines Evangeliars spricht. Und nicht
nur dafür, auch dass es sich um ein gehobenes
Skriptorium handelt, das auf solche feinen Diffe-
renzierungen Wert legt.
Es bleibt die Frage, ob beide Blätter – der Mat-
thäus und die Maiestas – wirklich zum selben
Buch aus derselben Werkstatt gehören? Vieles
spricht dafür, wie der mit zwei roten Doppelli-
nien gezogene Rahmen, die Federzeichnung in
brauner und roter Tinte, die dreilinigen braunen
Schraffuren, welche die Falten begleiten und
modellieren, den Faltenmulden Tiefe anzu-
deuten versuchen. Die Zeichnung wirkt im Mat-
thäusbild feiner, insbesondere in der Gestaltung
der Augenpartie. Auch das Layout unterschei-
det sich. Im Bild des Evangelisten wirkt es sou-
veräner, da die Bildfläche durch den markanten
Thron strukturiert wird. In beiden Bildern
werden die Kompositionen deutlich am Rahmen
festgemacht, in der Maiestas der Nimbus an der
oberen Rahmenleiste, beim Matthäus die Füsse
des Thrones an der unteren.
Die wenigen nicht ganz übereinstimmenden
Punkte betreffen stilistische Fragen, die auch mit
verschiedenen Händen erklärt werden können.
Der allgemeine Tenor beider Blätter lässt aber
auf dasselbe Skriptorium schliessen, dessen Ma-
lern gute künstlerische Qualitäten zu attestieren
sind. Die meisten Eigentümlichkeiten lassen
sich stilistisch eingrenzen und in die Normandie,
nach Burgund, Paris, Flandern um 1100/ erste
Hälfte des 12. Jahrhunderts lokalisieren, auch
der sog. „Channel style“ kommt in Frage.
Den Zopf des Matthäus konnte mit den Apo-
steln im Tympanon von Sainte-Madeleine in Vé-
zelay (um 1120) in Verbindung gebracht werden.
Die Frontalansicht Christi lässt seine Haare in
zwei Haarsträhnen über beide Schultern fallen,
auch dies in Vézelay schön zu sehen. In beiden
Bilder sind erstaunliche Parallelen zur Skulptur
festzustellen, was für eine bedeutende Werkstatt
spricht, wo Buch- und Wandmaler sowie Bild-
hauer zusammenarbeiteten. Der Zeichner hätte
Musterbücher für Bildhauer anfertigen können,
wie sie aus dem 13. Jahrhundert bekannt sind
(das Reiner Musterbuch, Codex Vindobonensis
507 der ÖNB, oder Villard de Honnecourt,
ms. fr. 19093 der BNF). Während Matthäus
seinen Blick auf seinen Evangelientext fixiert,
nimmt Christus in der Maiestas den Betrachter
eindringlich ins Visier, wie auch in Vézelay und
anderen Werken im Norden Frankreichs.
Zusammenfassend lässt sich sagen, das Einzelb-
latt mit der Maiestas Christi stammt aus der-
selben Evangeliarhandschrift wie das Blatt mit
dem Evangelisten Matthäus aus Nordfrankreich
im Umkreis von Paris, Corbie, Liessies, Saint-
Amand und steht dem „Channel style“ nahe.
Prof. Dr. Christoph Eggenberger
Literatur
La France romane au temps des premiers Capé-
tains (987-1152). Katalog der Ausstellung Paris,
Musée du Louvre, 10.3.-6.6. 2005.
Bernhard Rupprecht, Romanische Skulptur in
Frankreich, München 1975.
Walter Cahn, Romanesque Manuscripts in the
Twelfth Century. A Survey of Manuscripts Illu-
minated in France. Zwei Bände, London 1996.
CHF 14 000 / 18 000
(€ 12 960 / 16 670)
Abb. 1
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(Verso)
Zeichnungen des 15. - 20. Jahrhunderts
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