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Page Background 3401* NORDFRANKREICH, UM 1120

Christus als Majestas. Feder in Rot und Braun,

gelb laviert. Mit der Feder innerhalb der Darstel-

lung bezeichnet: Ego sum alpha et o primus et

novissimus principium finis. Ego sum via veritas

et vita. 34,8 x 24 cm. Mit den Spuren der alten

Heftung am rechten Blattrand.

In der Märzauktion 2012 wurde von Koller

Auktionen das Einzelblatt mit der Darstellung

des schreibenden Evangelisten Matthäus,

Nordfrankreich, um 1120 angeboten und erfolg-

reich vermittelt (Abb. 1). Die hier vorliegende

Buchseite stammt wohl aus derselben Hand-

schrift. Neben Übereinstimmungen sind aber

auch Unterschiede in der Behandlung der Figur

Christi und im Layout festzustellen.

Wie üblich thront Christus in der Maiestas

streng frontal, in seiner vollen Hoheit und

Erhabenheit. Bereits früh und oft eröffnet die

Maiestas Christi das letzte Buch der Bibel, die

Apokalypse (Offenbarung), so auch im Codex

Amiatinus aus der Zeit um 700 n. Chr. in der

Biblioteca Medicea Laurenziana in Florenz.

Unser Blatt aber scheint das Bild als Titelbild

eines Evangeliars zu zeigen, da auf der Rückseite

Teile eines Kalendars zu lesen sind. Leider sind

die Eintragungen von zu allgemeiner Natur, um

als Handhabe für eine Lokalisierung zu dienen.

Die Frontalansicht wird zusätzlich dadurch poin-

tiert, dass die Figur vor dem leeren Hintergrund

zu schweben scheint und dadurch jeglicher

bildliche Zusammenhang zu einer Umgebung

fehlt. Es ist klar eine Sitzfigur, wobei jegliche

Andeutung eines Thrones, eines Sitzkissens

oder eines Erdenrunds als Fussschemel, einer

Mandorla fehlt. Christus thront mit erhobener

Rechten, die Finger zum Segensgestus geformt.

In der Linken stützt er das geöffnete Buch auf

dem linken Oberschenkel.

Wie im Matthäusbild lässt sich der Text der

Doppelseite entziffern. War es dort der Anfang

des Evangeliums mit dem Stammbaum Christi,

lesen wir hier mit vielen abenteuerlichen

Abkürzungen: Auf der linken Versoseite „Ego

sum Alpha et O [Omega] primus et novissimus

principium finis“ nach Offenbarung 22, 13, und

auf der rechten, der Rectoseite: „Ego sum via

[et] veritas et vita [nemo venit ad Patrem nisi per

me]“ nach Johannes 14, 6. – „Ich bin das Alpha

und das Omega, der Erste und der Letzte, der

Anfang und das Ende“ und „Ich bin der Weg

und die Wahrheit und das Leben; niemand

kommt zum Vater, es sei denn durch mich“.Die

Texte umspannen die ganze Heilsgeschichte und

stammen aus zwei verschiedenen Büchern des

Neuen Testaments, des Johannes Evangeliums

und der Apokalypse. Man könnte argumen-

tieren, es sind die beiden wichtigsten Bücher.

Denn beide galten bis in die frühe Neuzeit

als von Johannes, dem Lieblingsjünger Jesu

geschrieben.

Die Zeichnung ist in brauner und roter Tinte

ausgeführt; das Blatt weist im Unterschied zum

Matthäusbild keine Linierung auf, was zusätzlich

für die besondere Bedeutung der Maiestas als

Titelbild eines Evangeliars spricht. Und nicht

nur dafür, auch dass es sich um ein gehobenes

Skriptorium handelt, das auf solche feinen Diffe-

renzierungen Wert legt.

Es bleibt die Frage, ob beide Blätter – der Mat-

thäus und die Maiestas – wirklich zum selben

Buch aus derselben Werkstatt gehören? Vieles

spricht dafür, wie der mit zwei roten Doppelli-

nien gezogene Rahmen, die Federzeichnung in

brauner und roter Tinte, die dreilinigen braunen

Schraffuren, welche die Falten begleiten und

modellieren, den Faltenmulden Tiefe anzu-

deuten versuchen. Die Zeichnung wirkt im Mat-

thäusbild feiner, insbesondere in der Gestaltung

der Augenpartie. Auch das Layout unterschei-

det sich. Im Bild des Evangelisten wirkt es sou-

veräner, da die Bildfläche durch den markanten

Thron strukturiert wird. In beiden Bildern

werden die Kompositionen deutlich am Rahmen

festgemacht, in der Maiestas der Nimbus an der

oberen Rahmenleiste, beim Matthäus die Füsse

des Thrones an der unteren.

Die wenigen nicht ganz übereinstimmenden

Punkte betreffen stilistische Fragen, die auch mit

verschiedenen Händen erklärt werden können.

Der allgemeine Tenor beider Blätter lässt aber

auf dasselbe Skriptorium schliessen, dessen Ma-

lern gute künstlerische Qualitäten zu attestieren

sind. Die meisten Eigentümlichkeiten lassen

sich stilistisch eingrenzen und in die Normandie,

nach Burgund, Paris, Flandern um 1100/ erste

Hälfte des 12. Jahrhunderts lokalisieren, auch

der sog. „Channel style“ kommt in Frage.

Den Zopf des Matthäus konnte mit den Apo-

steln im Tympanon von Sainte-Madeleine in Vé-

zelay (um 1120) in Verbindung gebracht werden.

Die Frontalansicht Christi lässt seine Haare in

zwei Haarsträhnen über beide Schultern fallen,

auch dies in Vézelay schön zu sehen. In beiden

Bilder sind erstaunliche Parallelen zur Skulptur

festzustellen, was für eine bedeutende Werkstatt

spricht, wo Buch- und Wandmaler sowie Bild-

hauer zusammenarbeiteten. Der Zeichner hätte

Musterbücher für Bildhauer anfertigen können,

wie sie aus dem 13. Jahrhundert bekannt sind

(das Reiner Musterbuch, Codex Vindobonensis

507 der ÖNB, oder Villard de Honnecourt,

ms. fr. 19093 der BNF). Während Matthäus

seinen Blick auf seinen Evangelientext fixiert,

nimmt Christus in der Maiestas den Betrachter

eindringlich ins Visier, wie auch in Vézelay und

anderen Werken im Norden Frankreichs.

Zusammenfassend lässt sich sagen, das Einzelb-

latt mit der Maiestas Christi stammt aus der-

selben Evangeliarhandschrift wie das Blatt mit

dem Evangelisten Matthäus aus Nordfrankreich

im Umkreis von Paris, Corbie, Liessies, Saint-

Amand und steht dem „Channel style“ nahe.

Prof. Dr. Christoph Eggenberger

Literatur

La France romane au temps des premiers Capé-

tains (987-1152). Katalog der Ausstellung Paris,

Musée du Louvre, 10.3.-6.6. 2005.

Bernhard Rupprecht, Romanische Skulptur in

Frankreich, München 1975.

Walter Cahn, Romanesque Manuscripts in the

Twelfth Century. A Survey of Manuscripts Illu-

minated in France. Zwei Bände, London 1996.

CHF 14 000 / 18 000

(€ 12 960 / 16 670)

Abb. 1

3401

(Verso)

Zeichnungen des 15. - 20. Jahrhunderts

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